Feuilleton  Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.05.2003, Nr. 124, S. 33

Tigersprung
Das erste Denkmal für die Opfer der SED-Diktatur

Die Zukunft hat es schwer in Deutschland; die Erinnerung aber auch. So groß die Orte des Gedenkens auch gebaut sind, sie können gar nicht groß genug sein, um all das aufzunehmen, was das zwanzigste Jahrhundert an Gedenkaufgaben hinterlassen hat. Ein Jahrhundert, das sich nicht zähmen läßt. Der Käfig steht offen, der Tiger der Vergangenheit läuft frei herum und springt aus dem Hinterhalt seine Opfer an.

Ein solcher Angriff ist soeben in Jena geschehen, die drohende Verwüstung aber betrifft die ganze Bundesrepublik. Dabei fing alles ganz harmlos an, ja es sah so aus, als könne man den gefährlichen Tiger gar reiten. Aus Amerika kam ein großzügiger Spender. Sein Name ist Karl Heinz Johannsmeier. Er wurde Ende der zwanziger Jahre in Jena, in einem Haus nah beim Rathaus, geboren. Wahrscheinlich würde er heute noch in Jena leben, hätte man ihn nicht 1955 wegen Besitzes von Westgeld zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt. Zum Schein nahm er nach zwei Jahren das Angebot an, als IM für die Stasi lange Ohren zu machen. Gleich ließ man den neuen Mitarbeiter frei, Johannsmeier aber hatte schon genug gehört und setzte sich erst einmal in den deutschen Westen ab, bis er schließlich in Amerikas Westen ein erfolgreicher Geschäftsmann wurde. Die alte Heimat aber hat seit 1989 mehr als genug zu tun mit den neuen Herausforderungen und läßt die Erinnerung an die DDR Erinnerung sein. Nun aber springt aus Kalifornien ein Gedanke nach Jena über: Aus Anlaß des bevorstehenden fünfzigsten Jahrestages des Volksaufstands vom 17. Juni sponsert Karl Heinz Johannsmeier ein nationales Denkmal für die Opfer der SED-Diktatur. Wo die Erinnerung noch ist, soll es auch an Geld nicht fehlen. Eine samtweiche Tatze streichelt den Bürgermeister und die Stadtverordneten.

Und nicht nur das Geld wird mitgebracht, sondern auch die Idee, wie das Denkmal aussehen soll. Angelehnt an das Vorbild der Holocaust-Mahnmale in Boston und Berlin, sollen Stelen aus Glas, zwischen drei und sieben Meter hoch, hinter dem Rathaus errichtet werden - Jena ist nicht umsonst die Hauptstadt des Glases. Und wie jahrtausendealtes Leben in Bernstein, so sollten hier ins Glas die magischen Worte eingeschlossen sein: Wahrhaftigkeit, Menschlichkeit, Zivilcourage, Freiheit oder, das war noch unklar, Demokratie. Die Stelen sollen die Mauer und auch den Durchbruch der Mauer versinnbildlichen. Das Denkmal soll auch Mut machen für die Zukunft, schön sein, zum Nachdenken anregen, es soll das schwere Schicksal und Licht und Luft bedeuten. Gewidmet den vierhunderttausend Verfolgten der kommunistischen Diktatur zwischen 1945 und 1989. Der Details, an die noch nicht gedacht worden war, würde sich ein heimisches Architektenbüro annehmen. Grundsteinlegung soll am 17. Juni sein. Bundestagspräsident Thierse ist eingeladen. Aber: Die Stadt muß sich beeilen, denn Johannsmeier könnte sich auch vorstellen, das Denkmal anderswo zu errichten.

Man hat den Platz hinter dem Rathaus, man hat den Sponsor, und man hat die Idee. Den geforderten Korrekturen im Detail wird der Stadtrat sich nicht verschließen, und so wurde jüngst im Stadtrat beschlossen: Das Denkmal wird gebaut. Kein langer Streit, keine Expertenkommission, keine Debatte wie beim Holocaust-Denkmal, eine öffentliche Vorstellung und dann der Beschluß. Alles schnell und gut? Sicher nicht, wie soeben bei einer Podiumsdiskussion offenkundig wurde. Mit Schrecken sah man: Die Krallen des Tigers stecken schon tief in den Eingeweiden der Stadt.

Volkhardt Knigge, dem Leiter der Gedenkstätte Buchenwald und ausgewiesenem Kenner politisch-historischer Denkmäler, reichten wenige Minuten, um das geplante Denkmal als Unding herauszustellen. Von der Symbolik bis hin zu den Inschriften kann hier nichts zueinander passen: Warum Glasstelen, wie sie auch so ähnlich die umliegenden Filialen von Bekleidungsgeschäften gern verwenden, wenn doch das Eingeschlossen-Sein, die Mauer gegenwärtig werden soll. Warum Transparenz, wenn es die doch gerade nicht gab? Warum Stelen - traditionelles Totenzeichen -, wenn doch auch der noch lebenden Opfer der SED-Diktatur gedacht werden soll? Sind alle gleichermaßen Opfer: Westflüchtlinge, politische Gefangene, Zwangsausgesiedelte? Da die Namen der Opfer aus rechtlichen Gründen nicht in die Glasplatten eingeschrieben werden dürfen, verfiel man auf die Idee, sie so zu symbolisieren, daß sie wie durchgestrichene Namen aussehen - womit das Denkmal noch einmal genau das täte, was das politische Regime einst auch getan hat. Man verdoppelt die Vertilgung. Nun soll noch ein kleines Wasserband um die Stelen laufen - Lethe, laß uns vergessen.

Zwar wies Bürgermeister Schwindt mit post- oder prämoderner List darauf hin, daß in New York oder anderswo auch nichts Besseres stünde, die Symbolik eh beliebig sei und dieses Denkmal nicht ausschließe, daß sich jemand erinnert. Jena soll Denkmal und Attraktion in einem gewinnen. Aber wird die Rechnung aufgehen, zumal die Kostenfrage nicht geklärt ist? Es steht zu befürchten, daß das erste Denkmal für die Verfolgten des SED-Regimes weder ein Denkmal noch eine Attraktion werden wird. Dafür sollte sich Jena zu gut sein. Noch ist es nicht zu spät, die Zukunft der Erinnerung zu retten. Wenn man das überhaupt will.

Nicht ausgeschlossen, daß die Gedenkkultur insgesamt heute am Ende einer Entwicklung steht. Man baut nun Denkmäler, die schon von Anfang an ohne Gedanken herumstehen, so wie früher Denkmäler dies erst nach fünfzig Jahren taten. Wo nichts ist, kann auch ein Tiger nicht mehr zubeißen.

MICHAEL JEISMANN


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